
Ein Jahr OTTO: Eine Zwischenbilanz mit Bereichsvorstand Boris Ewenstein
Boris, vor gut einem Jahr bist du zu OTTO gewechselt. Was hat dich am meisten überrascht? Welche Eindrücke aus deinen ersten Tagen haben sich bestätigt, welche musstest du revidieren?
Ich habe in allen Bereichen und an allen Touchpoints ein großes Maß an Expertise erwartet. Das hat sich nicht zuletzt durch OTTOs lange Historie und Transformation vom Katalog- zum Plattformgeschäft absolut bestätigt. Ebenso der Eindruck, den ich von der Unternehmenskultur hatte. Mir ging es bei meinem Wechsel zu OTTO darum, Kernwerte wie Wertschätzung, Orientierung und Fürsorge für Mitarbeitende zu bewahren und gleichzeitig das Unternehmen gemeinsam mit meinen Vorstandskolleg*innen in die nächste Phase der Entwicklung zu begleiten. Und dazu zählt auch, das Tempo zu erhöhen und die Lust auf Performance zu steigern. Denn ich glaube, hier können wir gemeinsam noch besser werden.
Inwiefern?
Ein Beispiel ist die Dokumentationskultur, die durch einen hohen Anspruch an Qualität und Vollständigkeit geprägt ist. Manchmal braucht es aber keine umfassende Powerpoint-Unterlage und Dinge lassen sich viel direkter, schneller und effizienter angehen und lösen. Beispielsweise mit einem kurzen, aber präzisen Word Memo. Da sind wir dran. Ich bemerke schon jetzt, wie wir noch stärker in ein crossfunktionales Arbeiten kommen, uns gegenseitig unterstützen und zusammen auf das gemeinsame Ziel hinarbeiten, echten Mehrwert für die Kund*innen zu generieren.
Dieser Mehrwert entsteht nicht zuletzt durch das Angebot. OTTO verkauft als hybride Plattform sowohl eigene Artikel als auch Sortimente von Marktplatzpartnern. Worin liegen die Herausforderungen, wenn es darum geht, beide Säulen auszubalancieren?
Es bleibt unsere Hauptaufgabe, für unsere Kund*innen ein attraktives Sortiment zu schaffen – und das über alle Sortimentsbereiche und Beschaffungskanäle hinweg. Das ist bei einer hybriden Plattform nicht immer einfach. Wir müssen sicherstellen, dass wir die richtigen Produkte und Marken mit der richtigen Verfügbarkeit zu den richtigen Preisen anbieten können. Das erfordert bewusste Kuratierung. Wir wollen die relevanten, qualitativ hochwertigen Partner. Auch, um bewusste Lücken, die wir durch unser Handelsgeschäft nicht bedienen, durch strategisch gewählte Partnersortimente abzudecken.
Warum ist Kuratierung so wichtig?
Vollständig offene Marktplätze, auf denen praktisch jeder seine Waren verkaufen kann, bergen Risiken. Wenn ich beispielsweise Artikel anbiete, die extrem günstig sind, kann ich davon ausgehen, dass diese eine hohe Conversion Rate haben, sich also gut verkaufen. Die Algorithmen, die die Sucherergebnislisten steuern, machen diese Artikel entsprechend sichtbarer. Und das obwohl das nicht immer die Produkte sind, die zur langfristigen Zufriedenheit der Kund*innen beitragen. Das hat zur Folge, dass die Plattform in ihrer Qualität erodiert und Konsument*innen auf Basis dieser Erfahrung keinen originären Grund haben, erneut im Shop einzukaufen. Diese sogenannten Downtrading-Effekte muss man bei einer hybriden Plattform managen. Deshalb haben wir einen sehr hohen Anspruch an unsere Partner. Das Angebot muss ‚just right‘ sein, nicht ‚just in case‘. Und ja, attraktive Einstiegspreise gehören auch dazu.
Wie steht es bei aller Kuratierung um die Skalierungspotenziale für OTTO?
Dafür lohnt sich ein Blick auf den gesamtdeutschen Handelsmarkt. Dieser liegt inkl. Lebensmitteln bei rund 620 Milliarden Euro. Davon werden 90 Milliarden online umgesetzt. Das ist eine Penetrationsrate von rund 14,5 Prozent. Schauen wir uns als Vergleichswert Großbritannien an, liegt der Wert doppelt so hoch – bei 27 bis 28 Prozent. In China bei 40 Prozent. Allein da gibt es also nach diesem Vorbild Möglichkeiten, auf bis zu 180 Milliarden Euro hochzuskalieren. Bei OTTO setzen wir mit unserem Umsatz von 7 Milliarden GMV im Geschäftsjahr 2024/25 ungefähr 8 Prozent des gesamtdeutschen Volumens der 90 Milliarden um. Hier gibt es also ein deutliches Potenzial, Marktanteile zu erschließen.
Wie soll das gelingen?
Wir wollen unsere Kund*innen inspirieren und durch das Zusammenspiel von Marke, Storytelling und hochwertigem Produkt begeistern. Und das gepaart mit spannenden sortimentsnahen Leistungen wie einem Aufbau- oder Anschlussservice für Möbel und Elektrogeräte oder mit attraktiven Finanzierungsoptionen. Dieser Fokus zahlt sich aus: Unser Marktplatzgeschäft ist allein im vergangenen Geschäftsjahr um über 20 Prozent im Nettoumsatz (GMV) gewachsen. Genau da machen wir jetzt weiter. Wir haben definierte Listen von Marktplatzpartnern, die wir unbedingt auf der Plattform haben wollen – auch für neue Sortimentsbereiche, die wir uns erschließen möchten. Darunter auch einige chinesische Partner, die kuratiert sind: unsere „Pearls“. Das sage ich bewusst, da diese im öffentlichen Diskurs häufig als qualitativ minderwertig verkannt werden. Das greift aber zu kurz. Es gibt durchaus chinesische Partner, die unsere hohen Qualitätsstandards teilen und die Kund*innen begeistern.
Die chinesischen Wettbewerber, die derzeit den E-Commerce verändern, fallen aber eher durch Billigwaren auf …
Der Erfolg dieser Marktteilnehmer zeigt, dass es einen Bedarf in diesem sehr niedrigen Preissegment gibt. Auch wir möchten konkurrenzfähige Preise anbieten, aber ohne unseren Qualitäts- oder Nachhaltigkeitsanspruch zu kompromittieren. Stattdessen wollen wir diesen Standard in allen Sortimentsbereichen zugänglich machen – beispielsweise bei unseren Möbelsortimenten oder bei halb-frei geplanten Küchen, die wir gemeinsam mit Küche & Co. zu einem sehr attraktiven Preis anbieten können. Auch ein Finanzierungsservice kann Kund*innen hier den Eintritt in Qualitätswelten ermöglichen, von denen sie mitunter gar nicht wissen, dass sie erschwinglich sind.
Wenn es um den Wettbewerb aus Fernost geht, seid ihr ja längst keine Theoretiker mehr: Kürzlich warst du in China, um euch ein eigenes Bild von der dortigen Industrie zu machen. Was hat dich beeindruckt?
Die schiere Innovationsgeschwindigkeit. Zum Beispiel der Mobiltelefon- und Netzwerkausrüster Xiaomi, der aufgrund schwindender internationaler Skalierungsmöglichkeiten kurzfristig auf Elektromobilität umgeschwenkt hat. Innerhalb von 18 Monaten hat er ein Auto konzipiert und die dafür benötigte Fabrik mit einer Produktionskapazität von 20.000 Stück im Monat hochgezogen. Das ist beispielhaft für ein Land, das allein im Jahr 2023 über 1,6 Millionen Patente eingereicht hat, und zeigt, wie extrem schnell man dort auf Marktveränderungen reagieren kann.
Sprechen wir von China, geht es häufig um Regulierung und fehlende Standards – und diese Diskussion ist richtig und wichtig. Diese Wettbewerber werden aber sehr schnell Wege finden, den hohen EU-Regularien und den wachsenden Forderungen von Verbraucherschutzverbänden zu folgen – und das bei gleichbleibender Innovationskraft. Da müssen wir hinschauen. Es lohnt sich, aus deren Tempo Inspiration zu ziehen. Gleichzeitig bleiben aber Qualität und Aspekte wie Nachhaltigkeit für uns nicht verhandelbar. In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns.
Wo können wir noch von China lernen?
China ist sehr gut darin, Unterhaltung und Konsum zu verschmelzen. Wir kommen aus einer Welt, in der Menschen klassisch über den Suchschlitz Produkte finden. Im chinesischen Onlinehandel sehen wir hingegen in steigendem Maße Entwicklungen, die genau andersherum funktionieren – also Produkte, die mehr oder minder nach Menschen suchen. Das funktioniert über Entertainment-, Streaming- und Live-Video-Formate oder Produktangebote in Newsfeeds, die eine personalisierte Zusammenführung sortimentsübergreifender Kaufinteressen umfassen. Da sind wir auf dem hiesigen Markt noch nicht ganz so weit und haben natürlich auch einen sehr viel strengeren Datenschutz. Aber trotzdem sehen wir mit Formaten wie unserem Liveshopping, dass es da auch für OTTO Potenziale gibt, um Interaktion noch einmal anders zu denken. Im nächsten Schritt müssen wir schauen, wie man das mit einem „Interest Graph“ verbindet, also individuellen, persönlichen Interessen, um noch individueller und zielgerichteter Kund*innen anzusprechen.
Boris, die ersten 365 Tage liegen hinter dir. Was wird dein zweites Jahr bei OTTO bringen?
Für mich ist es das Allerwichtigste, dass wir die Zufriedenheit der Kund*innen noch weiter steigern, sodass sie immer wieder gerne zu uns zurückkommen und uns weiterempfehlen. Dafür wollen in diesem Jahr einiges erreichen. Es gibt viele Brands, die wir noch akquirieren wollen, um unser Sortiment attraktiv auszubauen. Wir möchten potenzialstarke Eigenmarken wie Lascana und Hanseatic weiterentwickeln und unser wirklich erstklassiges Serviceangebot weiter bekanntmachen und erweitern. Im B2B-Geschäft planen wir unter anderem die Anbindung internationaler Partner. Über unsere Advertising Services wollen wir ein noch relevanteres Einkaufserlebnis für unsere Kund*innen gestalten und Partnern helfen, ihre Ziele zu erreichen. Darüber hinaus können wir Werbetreibenden helfen, Kund*innen auch jenseits unserer Plattform zu adressieren und damit zu einem starken Marketingpartner werden.
Nicht zuletzt sehen wir enormes Potenzial in der KI-gestützten Produktberatung im Shop. Im vierten Quartal werden wir einen Shopping-Assistenten launchen, der Kund*innen im Dialog zum Wunschprodukt verhilft, und die klassische Produktberatung in den digitalen Raum überführt.
Es gibt also einiges zu tun – und das sage ich mit großer Vorfreude.
Vielen Dank für das Gespräch, Boris.